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“Ich liebe nicht die übermäßig schnellen Zeitmaße, wie man sie heutzutage oft bei Virtuosen hört.”

Franz Liszt, 17. September 1883. (zit. nach Karl Lachmund, “Mein Leben mit Franz Liszt”, Schroeder-Verlag 1970)

 

„Das Schwein hat zu schnell gespielt, das ist unverzeihlich! Das ist unglaublich! Das Stück ist ruiniert!“

Maurice Ravel über Arturo Toscaninis Art, seinen Bolero zu dirigieren

 

“Wir machen auch darauf aufmerksam, dass man gewöhnlich zu schnell spielt und dass man schon viel geleistet zu haben glaubt, wenn man eine grosse Fingerfertigkeit entwickelt. Zu schnelles Spielen ist ein Hauptfehler. (...) Sich nicht zu übereilen und langsam zu spielen, ist schwerer als man glaubt.”

Sigismund Thalberg, Die Kunst des Gesanges auf demPianoforte op. 70, 1853

 


Internationaler Tempo-Giusto-Kongress 1998 in Öpfingen (Kongressbericht)

Internationales Tempo-Giusto Symposion 2009 in Öpfingen (Kongressbericht)


Links zur Thematik von Tempo Giusto:

A) Musik:
https://www.youtube.com/channel/UC8vR6VP-3o_SpdnEBrpYGiQ/featured (Wim Winters)
http://www.marcelpuntmusic.com (Marcel Punt)
http://www.newrespiro.de (Walter Nater)
http://www.tempogiusto.de (Uwe Kliemt)
http://www.zeitentanz.at

B) Medizin:
http://musikmagieundmedizin.de


Musikwissenschaftliche Literatur zur Thematik von Tempo Giusto:
 

A) 21. Jahrhundert

· Dr. Lorenz Gadient, “Takt und Pendelschlag - Quellentexte zur musikalischen Tempomessung des 17. bis 19. Jahrhunderts neu betrachtet”, Musikverlag Bernd Katzbichler 2010, ISBN 978-3-87397-348-1.
(mit korrigierendem Nachwort 2013)

· Dr. Marcel Punt, “The Straube Code - Deciphering the Metronome Marks in Max Reger’s Organ Music”, First edition published 2008 by Sibelius Academy, Helsinki, Revised online edition published 2015 by Marcel Punt Music at http://www.marcelpuntmusic.com/straubecode. (Dr. Punt hat den Deutschen Musikpreis “Echo Klassik 2011” in der Kategorie “Solistische Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)/ Orgel” für die Einspielung “Max Reger - Orgelwerke”erhalten.)
https://www.youtube.com/watch?v=aZd2l7H6ySI
http://www.marcelpuntmusic.com 

· Clemens-Christoph von Gleich / Johann Sonnleitner, “Bach: Wie schnell?” Praktischer Tempo-Wegweiser mit 200 Übungen und Beispielen. Verlag Urachhaus 2002, ISBN3-8251-7371-2

· Johann Sonnleitner, “Czernys rätselhafte Bach-Tempi”, Peter Lang Verlag 2002, ISBN 3-03910-108-0.

· Walter Heinz Bernstein, “Die Musikalischen Figuren als Artikulationsträger der Musik von etwa 1600 bis nach 1750”, Ebert MusikVerlag 1994, ISMN M-2052-0441-9.
 

B) 19. Jahrhundert

· Moritz Hauptmann, “Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik”, Leipzig 1853, Breitkopf & Härtel, neu bei Nabu Public Domain Reprints


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Was ist Tempo Giusto ?

Tempo Giusto heißt „rechtes, passendes, dem Inhalt des Musikstückes angemessenes Tempo” und ist eine gängige Vortragsbezeichnung besonders des 18. Jahrhunderts. Zu unterscheiden ist davon Tempo Ordinario, welches für Musik im C-Takt mit fortlaufenden oder eingemischten Sechzehnteln als kleinster Notenwert gilt (= Adagio). Das Tempo Ordinario ist also gleichsam ein Spezialfall der vielfältigen Arten des Tempo Giusto.

Musikwissenschaftliche Forschungen zuerst durch Erich Schwandt (L’Affilard on the French Court Dances, in: MQ 60, 1974, S. 389-400), hauptsächlich und mit durchschlagender Wirkung jedoch durch Willem Retze Talsma (Die Wiedergeburt der Klassiker, Wort und Welt Verlag Thaur bei Innsbruck 1980, 2. Auflage 1988), haben die Erkenntnis gebracht, die Musik bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts würde seit über hundert Jahren wesentlich zu schnell gespielt.
> Ch. V. Alkan.
>
Fr. Chopin.
 

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, die überlieferten Metronomzahlen seien zumeist metrisch gemeint: das Metronompendel muss bei Einstellung auf die angegebene Zahl in dem notierten Wert hin- und zurück schlagen. Es sind dann zwei „Ticks” zu hören, wo nach dem mathematischen Verständnis nur ein „Tick” richtig wäre. Es wird also die Vollschwingung des Pendels (1 Hin- und Zurückbewegung) der Tempobestimmung zugrunde gelegt . Das Ergebnis legt zunächst die Hälfte der heute üblichen und für bisher authentisch gehaltenen Geschwindigkeit nah.
Für Komponisten, die schlecht oder gar nicht hörten, dürfte es überdies nahe liegender gewesen sein, sich nach der sichtbaren Pendelbewegung zu orientieren, und nicht nach den (un-)hörbaren Ticks.

So lässt es sich beispielsweise erklären, warum falsch interpretierte Metronomzahlen viele Werke der Klassik und Frühromantik entweder als völlig unspielbar erscheinen lassen oder statt das ästhetische und menschliche Empfinden den sportiven instrumentalen und sängerischen Exzess als musikalisches summum bonum vorzustellen scheinen.

    · Wichtig: Es werden auch heutzutage die schnellen Sätze der Musik bis etwa zur Mitte des 19. Jhdts. nur selten so schnell gespielt, wie es die Metronomzahl vorzugeben scheint - aus dem einfachen Grund der technischen Impossibilität. Deshalb ist das Spiel im Tempo Giusto keineswegs grundsätzlich “halb so langsam”!

Ergänzend legen die bisherigen Forschungsergebnisse zumindest in der ersten Hälfte des 19 . Jahrhunderts einen variablen, gleichsam subtilen Metronomgebrauch nahe. Nämlich ein dem Tempo Giusto des Musikstückes entsprechenden. Gleiches scheint für den Gebrauch der früheren Pendel-Apparaturen zu gelten.

Das Wissen um dieses “rechte Tempo” alter Zeiten war auch am Ende 19. Jahrhundert noch bekannt. Als Beweis diene folgendes Zitat:
Il y a peu d’années, j’entendais en hongrie une symphonie d’haydn dirigée par un vieux capellmeister qui se piquait de conserver , les tenant de son vieux père, les véritables tra-ditions dumaître: sesmouvements étaient de moitié plus lents que les nôtres. [...] la va -peur et l’électricité ont changé notre façon de vivre: tout va plus vite aujourd’hui; la notion du mouvement s’est modifiée en proportion.
Vor wenigen Jahren hörte ich in Ungarn eine Haydn-Symphonie von einem alten Kapellmeister dirigiert, der sich damit brüstete, die echten Traditionen des Meisters, die er von seinem Vater gelernt hatte, aufrecht zu halten: seine Tempi waren um die Hälfte langsamer als unsere [...] Der Dampf und die Elektrizität haben unsere Lebensart geändert; alles geht heute schneller, der Tempobegriff hat sich entsprechend geändert. Charles-Marie Widor: „Aeolian”, in: „Revue éolienne” (Mai 1899), S. 19.
Zitiert nach: Oosten, Ben van, Charles-Marie Widor: Vater der Orgelsymphonie.
Paderborn, Verlag Peter Ewers, 2. Auflage 2006.

 

 

Ist das ein Jagen, ein Drängen, ein Hudeln! Als ob eine Wette bestünde, wer früher damit fertig wird, als ob es ein Verdienst wäre, aus Vierteln Achtel, aus Achteln Sechzehntel zu machen...

Anton Schindler, Beethoven-Biographie, 2.Auflage 1860

 


Ein Wort zuvor in eigener Sache

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Metronomzahlen sind so ungefähr das Letzte, wonach ich meine Interpretationen ausrichte. Gespitzt formuliert: Metronomzahlen sind für Leute, denen z.B. stilgerechte “Artikulation” ein Fremdwort ist. Oder die z. B. unter “Rhythmus” ein metronomisch exaktes Durchspielen verstehen. Oder die z.B. an Riemanns Phrasierungslehre und -bogen glauben. Oder... Insgesamt also für Leute, die das rechte Tempo nicht aus dem Studium und dem Verständnis des Tonstückes selbst zu erkennen vermögen. Wer je eine konventionelle Interpretation von Chopins Etüden op. 10 Nr. 7 (legato) oder Nr. 8 (Akzente) oder Nr. 9 und 10 (legatissimo - die wenigstens wissen anscheinend überhaupt noch, was das spieltechnisch bedeutet) mit den Noten in der Hand verfolgt hat, weiß, was ich meine.

Noch ein zu klärendes Missverständnis: in Wirklichkeit wird heutzutage oft gar nicht “doppelt zu schnell” gespielt (wie es die Tempo-Giusto-Praxis impliziert) -  weil nämlich wörtlich genommene Metronomzahlen schlicht unspielbar wären. Das ist natürlich kein Argument gegen die Tempo-Giusto-Praxis, sondern gegen die naive Vorstellung, die aktiven und passiven menschlichen Fähigkeiten im Hinblick auf Velocität seien unbegrenzt.

Es soll in Velocistan Leute geben, die an einer Etüde von Liszt oder Chopin nicht nur stunden- sondern buchstäblich tagelang üben, um die möglichste Rasanz zu erringen. Und sie verlieren darüber ihr eigenes Leben und das Verständnis und Wohlwollen ihrer Zuhörer. Hier ist Irren unmenschlich! Wer zeigen will, wie schnell er unter Ausschaltung alles Musikalischen spielen kann, möge doch bitteschön eine jener neuzeitlichen Kompositionen spielen, worin das wichtigste “musikalische” Element eben die Rasanz ist!

Ich danke jedesmal Apoll und seinen Musen, wenn ich ein neues Klavierstück studiere, über dem sich keine Metronomzahl findet. Noch dankbarer bin ich allerdings für das mir zuteil gewordene Geschenk, eine anderthalb Jahrhunderte währende falsche Hörtradition, welche die Schönheiten musikalischer Meisterwerke wie in einem Hohlspiegel gräßlich verzerrt hat,  überwinden zu dürfen. Die Ursache für die Entstehung jener falsche Hörtradition halte ich für eines der wichtigsten zu lösenden kulturhistorischen und wahrnehmungspsychologischen Probleme. Für das 19. Jahrhundert lässt sich doch diese Tendenz erkennen: die Klagen über immer schnellere Tempi nahmen zu, während die Komponisten immer langsamere Metronomzahlen notierten.
Prof. Josef Fischhof, der, wie man seinem Text durchaus entnehmen darf, bereits selbst auf den Zug der Beschleunigung aufgesprungen war, beschreibt in seinem Essay in der “Caecilia” (1847) die
erste Phase der Acceleration im 19. Jahrhundert. Immerhin war es damals offensichtlich noch möglich, im Scherzo einer Beethoven-Symphonie die Wiederholung schneller zu spielen -  ein bei neuzeitlichen Interpretationen hoffnungsloses Unterfangen. Vollständiger Text.

Die im Rahmen der Tempo-Giusto-Thematik erfolgende Kritik historischer Metronomzahlen und Aufführungszeiten dient zuvörderst dem musikwissenschaftlichen Nachweis, dass die Musik des in Frage stehenden Zeitraumes aus Unkenntnis (dagegen können wir etwas tun) und Angeberei (dagegen wollen wir nichts tun) oft viel zu schnell gespielt wird. Der langjährige Leiter des ARD-Wettbewerbes Jürgen Meyer-Josten antwortete auf die Frage “Wird zu schnell gespielt?”: “
Natürlich, das liegt an unserer Zeit. Nicht nur unser ganzes Leben wird von Hetze diktiert, auch die Musik ist davon betroffen. Das ist tödlich für Musik und alles, was Reife braucht. Die jungen Pianisten haben keine Zeit mehr, zu reifen. Ein Problem sind auch die Lehrer, die sich durch ihre Studenten und die Vielzahl ihrer gewonnenen Wettbewerbe profilieren wollen und die jungen Menschen zu früh loslassen.” (Quelle)

Ziel ist letztlich die allgemeine Abkehr von der bisherigen blinden Fortschrittsideologie der immer zunehmenden Beschleunigung in der Musik. Im Mittelpunkt künftiger Interpretationen wird die Musik und der Wille des Komponisten, wie er aus den Quellen erkennbar ist, stehen. Der Interpret dient frei und ohne Knechtschaft dem Werke, das er in den Vordergrund stellt.

Zur Begriffsklärung: Ich rede grundsätzlich nur von der Tempo-Giusto-Praxis, denn diese gab und gibt es nachweislich. Eine Tempo-Giusto-Theorie dagegen gibt es nicht. Der Nachweis einer existierenden Tempo-Giusto-Praxis wird sowohl historisch-musikwissenschaftlich, als auch von der Spielpraxis ausgehend geführt. Die Kenntnis des Tempo Ordinario ist dabei  Voraussetzung.

Leider wurde der nachdrückliche Hinweis auf die Existenz der Tempo-Giusto-Praxis von Teilen der akademischen Zitadelle bisher eher als Kampfansage denn als Erweiterung ihres Horizontes verstanden  - meinetwegen! Dann nämlich eine Kampfansage an den internationalen und deutschen Akademismus dort, wo er alle musikalischen Äußerungen nivelliert und konventionalisiert und in sein Prokrustesbett einspannt. Mit all seinen Ausgeburten und seiner Rasanz-Ideologie. Nun, er beansprucht eben die musikalische und künstlerische Wahrheit für sich. Die ketzerische Frage, ob nicht etwa die Tempo-Giusto -Praxis dieser Wahrheit doch näher komme, wird hier zu stellen gewagt und durch Fakten beantwortet.

Seien wir uns doch einig: die “vielzuschnelle” Musik ist auf ihre Art ebenso Gewaltmusik, wie die elektronisch verstärkte “Musik”. Verbieten wollen wir nichts, aber wir wollen nicht alles hören - und den Vielzuvielen gönnen wir doch das, was immer sie “Musik” nennen mögen...

https://www.youtube.com/watch?v=s-iZA61PJ8A

(Für echte Musiker und wahrhafte Bacchanten, die den Thyrsosstab nicht nur tragen, sondern ihn auch zu benutzen wissen, bedarf es eines wissenschaftlichen Nachweises des Tempo Giusto selbstverständlich nicht. Diese müssen das Folgende auch gar nicht lesen ---)


Tempo Giusto? Die Antwort der Quellen.


Im Folgenden  sei zunächst auf die Notwendigkeit der weiteren Erkundung hingewiesen. Denn in der sozusagen “gleitenden” Übergangszeit (die wohl erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war)* vom überwiegend metrischen zum ausschließlich mathematischen Gebrauch des Metronoms, gibt es noch viel zu entdecken. Wer immer mit auch noch so ausgefeiltem “musikwissenschaftlichen” Rüstzeug (was für eine “Wissenschaft”, die der Verballhornung und Unverständlichkeit musikalischer Kunstwerke das Wort redet!)  versucht, die Tempo-Giusto-Praxis zu diskreditieren, wird meist an etwas ganz Banalem scheitern: der Ausführbarkeit und Verständlichkeit. Auffallend bei den Verfechtern der bisher gängigen wörtlichen Lesart von Metronomzahlen ist die besonders naive Form, in welcher sie ihren unreflektierten Positivismus zur Schau stellen. Immerhin ist die Beweislast für das Tempo Giusto sowohl durch intensive Quellenforschung als auch durch die immer weiter um sich greifende Praxis in Konzert und Unterricht geradezu erdrückend geworden.

* Franz Liszt in seiner Ausgabe der Klaviertranskriptionen von Beethovens Symphonien 1865 eine metrische Metronomzahl. Er veränderte die in der Partitur des ersten Satzes der vierten Symphonie op. 60 stehende Zahl Takt 39 für die Ganze = 80 in Ganze = 88. Nimmt man beide Zahlen wörtlich, ist an eine verständliche Darstellung der Musik in fortlaufenden 8teln nicht einmal im entferntesten Ansatze zu denken, die einzelnen Töne der auftauchenden 16tel-Quintolen müßte man  quasi gleichzeitig anschlagen.
Neueste Forschungen belegen metrischen Gebrauch des Metronoms in Einzelfällen (hier: Max Reger) sogar bis kurz vor dem I. Weltkrieg. Hier eines von vielen bei Reger anzutreffenden Beispielen: Reger, Studie über Chopins Minutenwalzer.


Ein Beispiel aus England um 1800 zeigt uns, dass dort damals üblicherweise der C-Takt auf acht Achtel gezählt wurde, und nicht auf vier Viertel. Dies lehrte man den Anfänger im Gegensatz zu späteren Zeiten, wo dieser bekanntlich lernt, den C-Takt auf vier Viertel zu zählen (John Wall Calcott, An Explanation..., London ca. 1800). Dieser bedeutende Unterschied in der Elementarausbildung bewirkt einen genauso bedeutenden Unterschied für das Gefühl des rechten Tempos - was jeder Musikpädagoge bestätigen kann.
(Joseph Joachim Quantz lehrte übrigens schon ein halbes Jahrhundert früher in Berlin dasselbe. Inzwischen wird diese Tatsache in zunehmendem Maße auch an den Hochschulen zur Kenntnis genommen.)


Anton Reicha erklärt in seiner Kompositionslehre (Ausgabe von 1832 bei Diabelli in Carl Czernys Übersetzung),  das Subkontra-C hätte 32 Schwingungen je Sekunde. Dies lässt zumindest den Schluss zu, dass der Schwingungs-Begriff einmal anders definiert war.


Wie mit dem Zählen des Schlages einer Taschenuhr in den 1780er-Jahren umgegangen wurde, erhellt aus diesen Beispielen:

 

DIE SCHLÄGE DER TASCHENUHR

A) nach Türk 1789

Daniel Gottlob Türk gab 1789 seine umfangreiche Klavierschule heraus. Da es auch zu seiner Zeit noch kein Metronom gab, empfiehlt er zur Messung des Tempos noch ein anderes Mittel an als den Quantz’schen Pulsschlag und gibt uns dadurch wertvolle Hinweise zur Aufführungspraxis am Ende des 18. Jhdts.

“Ein anderes, dem Quantzischen ähnliches Hülfsmittel, könnte vielleicht eine Taschenuhr, welche einen mittelmäßig geschwinden Schlag hat, oder in einer Minute 260 - 270 Schläge (jeden Schlag, hin und her, mitgezählt) thut, zur Bestimmung des Zeitmaßes abgeben.

In diesem Falle müßte man auf jedes Viertel eines Allegro assai zwey*, im Allegretto vier** Schläge rechnen u.s.w. folglich kämen in einem gewöhnlichen Viervierteltakt im Allegro assai acht Schläge*** . Die übrigen Notengattungen und Taktarten ließen sich alsdann nach diesen bestimmen.” (Kap. I, Abschn. 5, § 73)

* entspricht etwa der Metronomzahl 132 (270 : 2)

** entspricht der Metronomzahl 66 (270 : 4)

*** also dauert ein solcher Takt knapp zwei Sekunden. Der schnellste Notenwert in solch einem Allegro assai sind Achtel. Türks Handstück Nr. 2 ist mit “Allegro” überschrieben und enthält fortlaufende Achtel; dabei keine schnelleren Werte.

 

B) nach Löhlein 1782

Georg Simon Löhleins “Clavier-Schule“ enthält in der Ausgabe von 1782 auf Seite 5 folgende Anweisung, den Takt zu schlagen:
“Man theilet die Viertel in eine bestimmte Zeit, etwa jedes auf vier Schläge einer Taschenuhr ein. Nach diesem angenommenen Maaße, gebe ich dem ganzen Tackt (O) vier Viertel, oder sechzehn solcher Schläge; dem halben zwey Viertel, oder acht Schläge, und so weiter, bis zum Sechzehnteilen, davon ein jedes einen Uhrschlag bekommt.”(Teil I, Kap. III, § 4)


DIE “FUSS-METHODE” DES ZÄHLENS: AB-AUF, AB-AUF

Johann George Tromlitz lehnt in seiner Flötenschule von 1791 (“Ausführlicher und gründlicher Unterricht die Flöte zu spielen”) die Puls-Methode der Tempo-Messung von Quantz ab (Kap. V, § 16): “Dahero zweifle ich, ob dieses Mittel mit nutzen angewendet werden könne. ... Wenn z.B. ein junger, feuriger Musiker, dessen Blut zugleich durch andere Zufälle in noch heftigere Bewegung gebracht worden, ein Allegro assai oder Presto nach diesen Pulsschlägen einrichten wollte, wo würde der mit seinen geschwinden Passagen hinkommen? wie würde es da mit der Begleitung aussehen? und wo bliebe denn die Hauptsache: der wahre Inhalt des Stückes? das Gefühl des Setzers?”
Aber auch Tromlitz wendet die schon von Quantz beschriebene “Fußmethode” für das Zählen an und schildert anhand eines Notenbeispieles im 2/4-Takt (Kap. V, § 20, S. 97):
”...wenn man mit dem Schlage des Fußes ein Viertel bezeichnet, daß man den Fuß richtig bey der andern Hälfte des Viertels aufhebe, und also zwey gleiche Theile mache; hat man nun zwey Viertel im Takte, so kömmt, wenn man nehmlich alle Viertel markiret, der erste Schlag aufs erste Viertel, das Aufheben des Fußes auf die andere Hälfte des Viertels, der zweyte Schlag auf das zweyte Viertel, und das Aufheben des Fußes wieder auf die andere Hälfte des Viertels. Auf dies Art bekömmt man vier gleiche Theile, als: auf das Niederschlagen zählet man: eins; auf das aufheben: zwey; auf das folgende Niederschlagen:drey; und auf das Aufheben: viere; Eins bezeichnet das erste Glied; zwey gehet durch; Drey bezeichnet das zweite Glied; und Viere gehet durch.”


In Walthers Lexikon (1732) lesen wir über die tempomäßige Ausführung des C-Taktes: “...ist aber nichts dabey notirt, so wird allezeit adagio darunter verstanden, und eine langsame Mensur gegeben, welche die Welschen tempo ordinario ... nennen.

(Ich pflege meinen Schülern zu raten, dieses anscheinend immer noch geheime Wissen einstweilen für sich zu behalten und entsprechende Stücke bei Aufnahmeprüfungen an deutschen Musikhochschulen möglichst geschwind abzufertigen, da die Chance auf einen Studienplatz andernfalls gleich Null wäre...)

 


Interpretiert die Musik unserer großen Meister
nicht wie Kinder*, sondern endlich wie Männer!

(* denn Kinder spielen grundsätzlich ohne Sinn und Verstand “so schnell wie möglich”.


Hier also zunächst Beispiele wenig bekannter nachrangiger Kompositionen, stellvertretend für eine ungeheure Anzahl ähnlicher Werke zur weiteren Erkundung und Entdeckung:

Anmerkung: Spielt man unbekannte Werke im Tempo Giusto, fällt dies seltsamerweise niemandem
besonders auf - nur bei den bekannten Werken gerät mancher ins Staunen!

 

  • Hans v. Bülow (1830 - 1894) zog andere Konsequenzen als Rubinstein. Seine zu schnellen Tempi (“um 3 - 4 Grade”) in Beethoven-Sonaten wurden schon von Liszt bemerkt. Den Tief- und Endpunkt der Entwicklung könnte seine Erläuterungsausgabe von Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 markieren (erschienen 1891 bei Cotta); hier sind die Metronomzahlen mit Sicherheit wörtlich gemeint. Die Musik ist mit ihnen zumeist nicht mehr darstellbar.


Regel:
Bei den alten Metronomzahlen wird oft der vom Komponisten oder Herausgeber gewünschte Taktteil angegeben, der mit der Taktvorzeichnung nicht übereinstimmen muss. Dieser besteht dann aus zwei Taktgliedern, die das Metronom  tickt. Die kleineren Unterteilungen, die sogenannten Taktnoten, spielen bei der Metronomisierung keine Rolle.


Allgemein bekannte Beispiele:

  1. Beethoven, Sonate op. 53, 1. Satz, Allegro con brio.
    Takt: 4/4. Czerny gibt als metronomisierten Taktteil 2tel = 88  an, was getickte 4tel -Taktglieder ergibt; alle kleineren Werte sind dann Taktnoten. Die originale Taktvorzeichnung ergäbe 2x eine Thesis je Takt, nach Czernys Metronomzahl wäre es nur 1 Thesis.
  2. Beethoven, Sonate op. 53, 3. Satz, Allegretto moderato.
    Czerny gibt die Metronomzahl 4tel = 88 bzw. in einer späteren Ausgabe 4tel = 100. Nicht alle Urtext-Ausgaben geben die Pedalstelle ab Takt 100 korrekt wieder. Jedenfalls lässt Beethovens präzise Bezeichnung auf das Spieltempo bezogen nur den Schluss zu, metrisch (in Achteln) zu denken. Nur dann ist die Anweisung, das Pedal auf das letzte Achtel des Taktes aufzuheben, für den Pianisten ausführbar.
  3. Beethoven, Sonate op. 106, Scherzo, Assai Vivace.
    Takt: 3/4. Beethoven gibt als metronomisierten Taktteil punktierte 2tel = 80 an (1 Thesis je Takt), was getickte punktierte 4tel-Taktglieder ergibt. Moscheles hingegen schlägt in seiner zweiten, bei Hallberg erschienen Ausgabe von 1868 einfach 4tel = 132 vor, die dann wörtlich zu nehmen sind.


Alles Große, Bedeutende und Wichtige - es eilt nicht!


Das mechanische Indiz
“Die Repetition der Stoßzungenmechanik ist langsamer, wie bei einem gut regulierten Klavier schafft ein versierter Pianist hier höchstens 8 Anschläge desselben Tones pro Sekunde*), was wesentlich über der Frequenz eines schlecht regulierten modernen Flügels oder den Möglichkeiten eines minder Geübten liegt. Daß selbst der sicher größte aller Pianisten, Franz Liszt, die meiste Zeit seines Lebens Stoßzungenmechaniken gespielt hat, und das aller Wahrscheinlichkeit nach, ohne sein Publikum ob seiner Langsamkeit zum Gähnen zu bringen, wird geflissentlich übersehen.”

(zitiert nach: Christoph Schreiber, Berlin, Pianosalon Christophori )

*) was einer Metronomzahl von 120 für 4 Sechzehntel bzw. 160 für 3 Sechzehntel entspricht. Vgl. hierzu z. B. Carl Czerny, Schule der Geläufigkeit op. 299 Nr. 22, Carl Czerny, 40 Tägliche Übungen op. 337 Nr. 11 und Franz Liszt, Große Konzertfantasie über spanische Weisen, Takte 151-169 (Audio-Datei aus einem Live-Konzertmitschnitt, Pianist Wolfgang Weller), Franz Liszt, Ferdinand Davids Bunte Reihe Nr. 16, Etüde, Franz Liszt, Étude op. 1 Nr. 2

 

Franz Liszts Instrumente
Im Jahre 1824 stellte Sébastien Érard Liszt das zweite Exemplar seines Flügels mit dem von ihm neu erfundenen “double échapement” zur Verfügung. Érard sponsorte in den folgenden Jahren Klaviere für viele Konzertauftritte Liszts in Europa.
Bereits 1826 trat Liszt jedoch in Marseille mit dem Verleger Boisselot in Verbindung, der Anfang 1827 seine 12 Etüden op. 1 herausbrachte. Im selben Jahr gründete Boisselot eine Klaviermanufaktur.
Auf seiner Konzertreise nach Südfrankreich und die iberische Halbinsel 1844/45 wurde Liszt von Louis Boisselot begleitet, im Gepäck führte man zwei Flügel mit. Einen  dieser Flügel verkaufte Boisselot nach Liszts Abschied aus Lissabon der portugiesischen Königin Maria II. Dieser Flügel steht heute in Lissabon im Musikmuseum in schlecht restauriertem Zustand, der andere in Weimar.
Die Hämmer dieser Flügel waren beledert, nicht befilzt. Der Weimarer Flügel war Eigentum Liszts, seit Boisselot ihm diesen 1847 von Marseille aus nach Odessa schickte; Liszt hielt sich dort auf einer Konzertreise auf. Er nahm sein künftiges Lieblingsinstrument mit nach Weimar und komponierte während seiner Zeit dort auf diesem Flügel.

Boisselot-Flügel um 1840, vermutlich eines der beiden Exemplare, die Liszt auf seiner Tournee 1844/45 nach Spanien und Portugal mit sich führte. Mahagoni, Umfang CC - g’’’’, Stoßzungen- mechanik.

Quellenangabe zum Foto:
www.forte-piano.ch

Nachdem Liszt Weimar verlassen mußte, ließ er den Flügel zurück  und begnügte sich häufig mit einem aufrechten Klavier, dessen Kontra-D-Taste zudem  gebrochen war. Auf diesem Klavier, das auch von Fotografien bekannt ist, spielte er Gästen gerne seine neuesten Kompositionen vor, darunter technisch so anspruchsvolle wie “Les Jeux d'eaux à la Villa d'Este”.

   

Liszt brauchte also ganz offensichtlich keine “double action” bzw. “'double-échappement”! Zumal erst um 1850 die letzte substantielle Verbesserung von Érards Erfindung (die Herz’sche Repetierfeder) gemacht wurde - erst von da an waren “neuzeitliche” Geschwindigkeiten möglich. Bis sich diese letzte Verbesserung im Klavierbau allgemein durchgesetzt hat, dürfte nochmals ein Jahrzehnt vergangen sein. Wie schnell hat Liszt seine Opernfantasien, seine Sonate, seine Transzendenten Etüden usw. gespielt?

 


Um es endlich einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, was über hundert Jahre lang verdrängt wurde: Kein (!) Pianist - geschweige denn Klavierschüler -  ist oder war in der Lage, auch nur eine einzige (!) Etüde aus Carl Czernys “Schule der Geläufigkeit” op. 299 oder “Schule des Virtuosen” op. 365  sauber und musikalisch sinnvoll nach den wörtlich interpretierten Metronomzahlen auszuführen, kein (!) Orchester ist oder war von der übermenschlichen Fähigkeit, eine Symphonie von Ludwig van Beethoven sauber und musikalisch sinnvoll nach den überlieferten Metronomzahlen aufzuführen.


Das motorische Indiz

  1. Die Bearbeitung der Symphonien Ludwig van Beethovens unternahm Franz Liszt mit der Maßgabe, daß “die Schüler der ersten Klasse der Konservatorien in der Lage sein, sie leidlich a prima vista zu spielen, vorbehaltlich besseren Gelingens bei der Arbeit ... zunächst in Beziehung auf den Sinn und das ästhetische Verständnis, ... auch in Beziehung auf technische Geschicklichkeit und Vervollkommnung der Virtuosität, von der man nur den übeln Gebrauch verschmähen muß, der sie gelegentlich gefährdet.” (Brief an Breitkopf & Härtel vom 28. August 1863).
    Gewiss erbleicht mancher “moderne” Virtuose vor dem Anspruch solcher Leistungsempfehlungen, zumal wenn er die von Liszt gewissenhaft übernommenen beethovenschen Metronomzahlen wörtlich nehmen wollte.
     
  2. Liszt dirigierte laut eigenem Bekunden (in: “Franz Liszts Klavierunterricht von 1884-1886. Dargestellt an den Tagebuchaufzeichnungen von August Göllerich. Hrsg. von Wilhelm Jerger, Gustav Bosse Verlag 1975”, Klavierstunde am 10.Juli 1885) im Scherzo der 9. Symphonie den dreitaktigen Rhythmus im Dreier-Takt: “Der Meister zeigte, wie Er im Scherzo dirigire, den 3taktigen Rhythmus im 3/4 Takt und sonst nicht “wie Lachner” , “als wenn man Holz hacken müßte immer gerade aus.”

Das ästhetische Indiz

  1. Der Liszt-Schüler August Göllerich notiert im Klavierunterricht am 29.Juni 1885(Quelle s.o.): Er (Liszt) betonte, daß Er Läufe in Seinen Originalcompositionen in der Regel nicht sehr schnell nehme, “denn sonst werden mir die Geschichten zu schnudelig und verschwommen, und unklar.”
  2. Als Franz Liszt 1878 in Paris weilte, erhielt der Komponist Charles-Marie Widor die Möglichkeit, ihn ausgiebig auf Érards Château La Muette spielen zu hören und dabei wichtige Werke der deutschen Klavierliteratur kennenzulernen. Er war begeistert über die von ihm viel größere als von anderen Pianisten dieser Zeit erzeugte Wirkung, da er nach Widors Zeugnis fast doppelt so langsam als diese spielte.
  3. Hört man Töne in zu schneller Folge, erscheinen sie als akustische Täuschung in verkehrter Reihenfolge:



    (
    Frédéric Chopin, Scherzo Nr. 2 / 2. Thema, die Achtel-Begleitung der linken Hand).
     
  4. Das menschliche Ohr benötigt zur Umsetzung des Schalls in Nervenimpulse etwa 100 Millisekunden. D.h. bei mehr als ca. 10 Tönen je Sekunde bekommt jeder Hörer Wahrnehmungsprobleme. Dies entspricht etwa 4 Sechzehnteln bei 1 getickten Viertel auf 160 M.M. Natürlich kann jeder halbwegs trainierte Pianist oder Geiger schneller spielen (wenn es nicht gerade Doppelgriffe sind) - aber sollen sie es auch tun, wenn sie sich den Ehrentitel “Künstler” beimessen und ein musikalisches Kunstwerk verständlich interpretieren wollen?
  5. Der Künstler hat die technischen Reserven, der Instrumentalsportler zeigt sie.
  6.  


Das Quellenindiz

Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren und auf  Johann Sebastian Bachs Zeit und davor ausdehnen. Doch selbst, wenn es keine Metronomzahlen gäbe, legte die Art der Musikausübung, wie sie aus den zeitgenössischen Quellen (Lehrbücher, Tagebücher, Briefe etc.) sich darstellt, ein ursprünglich wesentlich langsameres Tempo nahe. Diese Quellen werden zwar immer häufiger an den Musikhochschulen gelesen, aber anscheinend noch ohne Konsequenz in Unterricht oder Konzert - trotz eines in anderen Bereichen manchmal übertriebenen Historizismus.
Wer je die
Flötenschule von Quantz (s. Alkan 1, § 11) gelesen hat, weiß, wie man im 18. Jhdt. Viertel zu zählen hatte.
Wer bei
Chopin Klavierunterricht hatte, wußte, wie er eine Polonaise zu zählen hatte. Punkt!

  • Eine in der Beethoven-Literatur bekannte und häufig erwähnte Quelle ist das berühmte vierstündige Konzert am 22. Dezember 1808 von 18.30 - 22.30 Uhr im Theater an der Wien. Damals  ließ Beethoven folgende Werke aufführen: die Symphonieen Nr. 5 und 6, Sanctus und Gloria aus der Messe C-Dur, die Arie “Ah, perfido!”, das Klavierkonzert G -Dur, die Chorphantasie op. 80 und eine eigene “lange” freie Fantasie. Stellt man sich dieses Konzert aus CD-Aufnahmen der letzten Jahre zusammen, kommt man (man glaubt es kaum!) auf eine Konzertlänge von nur etwa 130 Minuten - und darin sind sogar zehn bis fünfzehn Minuten für Beethovens freie Improvisation schon mit eingerechnet. Wo bleiben die restlichen 110 Minuten? Dauerte der Beifall so lange? Waren Umbauten nötig? Gab es eine große Pause mit Abendessen? Was war mit den Wiederholungen? ODER HAT MAN GAR WESENTLICH LANGSAMER GESPIELT?
  • Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 3 (“Eroica”): Die Dauer dieser Symphonie  wird in den zeitgenössischen Quellen durchweg mit 1 Stunde angegeben, wobei in Wort und Schrift über die ungewöhnliche Länge polemisiert wird (ein Zuhörer rief nach Czernys Zeugnis während der öffentlichen Uraufführung: “ich gäb noch einen Kreuzer, wenns bald aufhörte!”). Dirigenten, welche den ersten, majestätischen Satz in nur 14-15 Minuten von maßlos überforderten “Weltklasse”-Orchestern herunterfegen lassen, gehörten eigentlich mit Berufsverbot belegt, denn musikalische Idioten, auch berühmte und machtberauschte, gehören “zum Glück der heiligen Grazien” nicht vor ein Orchester, um mit erhabenen Kunstwerken Schindluder zu treiben. Wissen sie nicht, was Punkt und Bogen in der klassischen Musik bedeuten? Hört niemand die aus dem falschen Tempo sich ergebenden falschen und verwischten Töne? Warum lassen es sich Orchestermusiker gefallen, ständig über ihre Möglichkeiten - nämlich des Menschenmöglichen überhaupt -  gefordert zu werden? Wann wird es keine Zuhörer mehr geben für solchen Unsinn? Beethoven überlegte lange hin und her, ob er die Exposition des ersten Satzes wiederholen lassen solle oder nicht - wegen der ungewöhnlichen Länge des Stückes. Die Exposition dauert bei den heutigen Aufführungsgeschwindigkeiten nur 2,5 Minuten, im Tempo Giusto 5 Minuten. Nur im letzteren Fall lohnt sich die Überlegung, ob Wiederholung oder nicht. Im Scherzo dieser Symphonie taucht ab Takt 40, 3. Viertel die Melodie auf: “Und was ich des Tags mit der Leier verdien’, das gehet des Nachts wieder alles dahin!”.*)  Wer die Melodie schön mitsingen kann, hat das “rechte, passende, dem Inhalt des Musikstückes angemessene Tempo”! Hier das Scherzo in der Fassung für Klavier von Franz Liszt in einem unbearbeiteten, nicht retuschierten Live-Konzertmitschnitt vom 18.11.2007, Pianist Wolfgang Weller.
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    *) freundliche Mitteilung von Uwe Kliemt,
    Copyright dieser Tempo-Giusto Einspielung:  
    www.hodie-world.com, Ludwig van Beethoven, Symphony N° 3 op. 55 "Eroica", Europa Philharmonia Orchestra, Vienna Symphony Library, Maximianno Cobra, Conductor.
     

  • Ludwig van Beethovens Sonate op. 106:

                   Brief Franz Liszts an Gräfin Sayn-Wittgenstein
                   Quant a la merveilleuse Sonate de Beethoven 106, elle se compose de 4
                   morceaux : Allegro, Scherzo, Adagio, Prelude et Fugue, qui tiennent 70
                   pages d'impression, sinon plus, et durent presque une heure” (1876, 26.10.)


Mangel an Noblesse drückt sich im Drang zur
Velocität aus - der Sklave muss sich beeilen.


Historische Vergleiche

Edvard Griegs Einspielung seines Hochzeitstages auf Troldhaugen von 1903 ist so abstrus schnell (Vortragsbezeichnung: “Tempo di marcha, un poco vivace”), dass man sich unwillkürlich fragen muss, ob die alte Walze im Originaltempo abgespielt wird. Dasselbe Problem taucht bei anderen Walzen, die Grieg (und andere Pianisten) bespielt haben, ebenfalls auf

 

Ein akzeptables Tempo für Griegs Hochzeitsmarsch führt hingegen (zumindest am Anfang, später wird auch er ungebührlich schnell und nimmt dadurch, wie vor ihm schon Grieg, falsche  Töne in Kauf)  der Liszt-Schüler Artur de Greef (1862 - 1940) vor:

 

Wie man es nicht machen soll, zeigt Vladimir de Pachmann mit Chopins Étude op. 10 Nr. 5 (“Schwarze Tasten”). Ihm laufen die Finger solchermaßen davon, dass er zweimal ansetzen muss. Sein Unvermögen können auch seine verbalen Kommentare und der Godowsky -Schluss nicht übertünchen. Immerhin ist doch herauszuhören, dass er eigentlich eine sehr gute Technik hatte. Die nützt aber nichts, wenn man das Tempo so gnadenlos überzieht. Franz Liszt hätte seinen Satz über Schnellspieler (s.u.) in diesem Beispiel bestens auf Pachmann anwenden können. Vielleicht läuft aber auch diese Aufnahme zu schnell ab?

 

Wie man es besser machen kann, indem man einfach das Tempo wenigstens etwas reduziert, zeigt Francis Planté (1839 - 1934):

 

Der Liszt-Schüler Moritz Rosenthal spielt diese Etüde wiederum schneller als Planté, und zieht am Schlusse die logische Konsequenz aus seinem veloziferischen Tempo: die Oktaven im Glissando! Übrigens bedeutet Chopins Vortragsbezeichnung “legatissimo” die Anweisung, die Töne über den notierten Wert hinaus festzuhalten, soweit sie harmonische sind. Damit ist das klassische Fingerpedal gemeint, welches später immer mehr durch das Pedal ersetzt wurde. Bei Franz Liszt heißt es dann “harmonioso” und meint reichlichen Pedalgebrauch.

 

Hingegen gelingt Pachmann bei Chopins Etüde op. 10 Nr. 1 eine Interpretation voller Noblesse und Wärme, das Tempo ist mit 4tel ca. 120 dem majestätischen Charakter der Komposition einigermassen angemessen, könnte aber noch mäßiger sein. Der direkte Vergleich mit Martha Argerichs “Interpretation” (die hier als “Opfer” stellvertretend für viele zeitgenössische Pianisten stehen möge) läßt den Unterschied zwischen dem musikalischen Einsichtsvermögen des vielgescholtenen Pachmann und der technischen Blödheit rein sportiver Pianistik krass hervortreten. Hierzu auch Simon Bareres Beitrag zu Chopins Etüde op. 10 Nr. 4.

 

 

Hier noch ein Beispiel zu Mozart: Kleine Nachtmusik, Rondo. Die eine Version tänzerisch, musikalisch, verständlich und intelligent phrasiert, eine Artikulation ist hörbar, die Geschwindigkeit geht zumindest in die Richtung des Tempo Giusto. Die andere Version: ”Ich versteh’ klassische Musik nicht!”

 


Klavierrollen

Zur Problematik des Abspieltempos alter Klavierrollen hier ein Beispiel mit Carl Reineckes (1824 - 1909) Einspielung des “Alla Turca” von Mozart, aufgenommen 1907 (Hupfeld):

 

Kommentar desjenigen, der die Datei eingestellt hat: Tempo is a guess: the marked tempo (50) is about half the chosen value, and Reinecke's Welte roll of the same piece is about 4 times this speed!” Er fügt noch an, das hier eingestellte Tempo sei wohl das richtige.

Generell ist es möglich, die Abspielgeschwindigkeit von Pianorollen in einem bestimmten Maße zu manipulieren. Zwei Beispiele:

  1. Ferruccio Busonis Einspielung von Franz Liszts “Feux follets” erklingt heutzutage auf getickte 8tel ca. 156, Busoni selbst schlägt aber in seiner Ausgabe der lisztschen Etüden für dieses Stück 8tel = 120 - 126 vor. Der Unterschied beträgt damit ca. 18%. Warum sollte Busoni so stark von seiner eigenen Empfehlung abgewichen sein? Übrigens verlangte Liszt von seinen Schülern für diese Etüde “ein sehr bequemes Tempo” (zitiert nach Göllerich), seine Vortragsbezeichnung ist Allegretto. Artikulationsunterschiede zwischen Staccato-Keilen und -Punkten sollten hörbar sein...
  2. Des Liszt-Schülers Arthur Friedheim Einspielung von “Les Jeux d’Eau à la Villa d’Este” existiert in zwei Geschwindigkeits-Fassungen. Ein und dieselbe Aufnahme dauert in der auf Youtube eingestellten Fassung 6:17 Min., in einer anderen (von Gerard Carter übertragenen) Fassung 7:32 Min. Der Unterschied ist ähnlich groß wie im ersten Beispiel. Liszts Vortragsbezeichnung: Allegretto.
    Hier eine schöne Interpretation des späten Claudio Arrau, Spieldauer knapp 9:00 Min. (der Unterschied zur schnellsten Friedheim-Version beträgt immerhin 30%):

     


Velocistans Ende -
Neubeginn von rechtem Maß und Schönheit der Musikinterpretation

Weil immer noch viele Musiker nicht in der Lage sind, das rechte Tempo aus dem musikalischen Kontext herauszufinden,  muss man leider auf den Parameter der puren technischen Ausführbarkeit hinweisen. Denn musikalische Argumente zählen bei musikalischen Idioten nicht - aber wollen wir überhaupt zu Idioten reden?

  • “Daß man solche Leute nicht polizeilich überwacht!” (Franz Liszt in seinem Unterricht zu einem Schnellspieler).

Zu den wichtigsten Ausbildungszielen der Akademien gehören anscheinend nach wie vor (pro pudor!) Rasanz und Perfektion - zwei Parameter, die sich gegenseitig ausschließen und insgesamt zum musikalischen Bankrott führen. Artikulation, Metrum, Binnendynamik usw. sind nicht mehr darstellbar und wahrnehmbar. Aufführungen werden wesentlich nach dem Maßstab der Stoppuhr und der Perfektion beurteilt, der Schnellste wird beklatscht und das Publikum kann schnell, unbelastet und unbehelligt ins Restaurant oder nach Hause gehen und das Gehörte schnell wieder vergessen. Die Inhalte verkommen und würden doch so stark interessieren und berühren. Die Rasanz läßt keine individuelle Gestaltung mehr zu, alles klingt notgedrungen gleich und ebenmäßig. Das beklagen die Musikkritiker zwar zurecht, aber die eigentliche Ursache scheint den wenigsten bewußt. Zu schnelle Musik ist Gewaltmusik ebenso wie zu laute Musik. Hier ein besonders “gelungenes” Beispiel:

 

Da inzwischen radikal umgedacht wurde, ist die teilweise agressive Ablehnung bzw. der Versuch des Totschweigens der mittlerweile weltweit angwandten Tempo-Giusto-Praxis seitens immer noch großer Teile der akademischen Zitadelle und ihrer eine abderitische Pseudowissenschaft vertretenden High-Speed-Musikanten verständlich. Das Fundament dessen, was seit über hundert Jahren in Bezug auf Tempo und was damit zusammenhängt, gelehrt und gehört wird, ist ein für allemal hinfällig. Wie für das rechte Tempo, werden die entdeckten Fakten umstürzlerische Wirkung auf die Ausführung und Wahrnehmung von Artikulation, Rhythmus, Dynamik etc. haben. Immer mehr Interpreten, Solisten wie Dirigenten, und Pädagogen machen bereits Gebrauch von dieser Erkenntnis in Konzert, Unterricht und Tonträgeraufnahmen - mit dem erstaunlichen Resultat, daß auch sogenannte „normale” Zuhörer mit geringer Vorbildung Zugang zu den musikalischen Werken aus dem Bereich der Hochkultur finden - wie es am Anfang war.

Hier besteht also die Möglichkeit, die „klassische” Musik aus ihrem derzeitigen immer enger werdenden Elfenbeinturm herauszuführen. Die Musikindustrie wird das gesamte “klassische” Repertoire neu aufzunehmen haben und damit selbst davon profitieren.

 

...dass die nächste Generation die rasende Eile ihres Fortschritts etwas mäßigen möge, weg vom Spektakulären und Explosiven, zu einem Tempo, das der langsameren Gangart des praktischen Musikers angemessener ist.

Yehudi Menuhi, “Rundfunk und Tonaufnahme”, London 1949
 


Ein Wort zum Gebrauch des Metronoms

Den Metronomzahlen keines Komponisten ist unbedingt zu trauen (ich traue nicht einmal meinen eigenen). Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen schwankt man manchmal selbst erheblich in der Tempoauffassung eigener Werke; das ist auch eine von Beethoven bis Boulez bezeugte Tatsache. Der Dirigent Daniel Barenboim berichtet in einem Interview (Quelle): “Aber jeder Komponist – auch einer, der wirklich sehr rational ist wie Pierre Boulez – wird Ihnen sagen, daß die Musik im Kopf schneller ist, weil der Klang dort kein Gewicht hat. Im Kopf können Sie eine Brahms-Sinfonie in drei Minuten durchspielen. Von Boulez habe ich zuletzt sein jüngstes Orchesterstück, die Nummer 7 aus "Notations", gemacht. Er war in der Probe, und seine erste Tat war die Änderung der Metronomzahl von Viertel = 60 zu Achtel = 90.”

Zum anderen muß man sich nach den Gegebenheiten richten:

  1. der Respekt vor dem Komponisten und seinem Werk und aber auch vor den  Zuhörern gebietet es, verständlich zu spielen, deutlich zu artikulieren. Metronomzahlen, welche dies verhindern, kann man getrost negieren. Wer zeigen will, wie schnell er spielen kann, soll auf Werke zurückgreifen, die das ausdrücklich verlangen und der Nach-Tempo-Giusto-Zeit angehören (Rachmaninoffs Préludes op. 23 Nr. 8 und 9 oder Moszkowskis Études op. 72 machen da richtig Vergnügen).
  2. Orchester- oder Orgelwerke klingen auf dem Klavier 2 - 3 Grade schneller oft besser und im Klang kohärenter. Beispiel: Maurice Ravel spielt seine  Klavierbearbeitung des ‘Bolero’ auf 4tel ca. 72-76, während er das Orchester (Aufnahme von 1932) auf ca. 63 -66 dirigiert.
  3. Trockene Raumakustik verlangt ebenfalls nach etwas schnellerem Spiel, denn mehr Pedal verunklart wiederum oft die Artikulation.
  4. Tänzerische Stücke z. B. aus Barock-Suiten oder Walzer und Polonaisen von Chopin müssen als solche erkennbar sein, auch wenn stilisierte Tänze oft  schneller gespielt werden dürfen.* Keine Art von Stilisierungsargument  rechtfertigt jedoch eine doppelte Geschwindigkeit. Warum übrigens die Vertreter des Stilisierungsargumentes immer nach der schnelleren Seite hin tendieren, bleibt deren Geheimnis. Die andere Richtung scheinen sie nicht zu kennen.
  5. Gesangliche Instrumentalstücke wie auch Lieder, Arien etc. müssen singbar wahrgenommen werden können.
  6. Auf Metronomzahlen können gute Musiker getrost verzichten.

*H. Chr. Koch schreibt in “Musicalisches Lexikon” (1802) über Menuette in Sonaten und Symphonien: “Man ist aber, weil Menuetten dieser Art nicht zum Tanze bestimmt sind, sowohl in Ansehung des Rhythmus, als auch in Ansehung des Zeitmaaßes von der ursprünglichen Einrichtung der Menuet abgewichen, und bindet sich dabey an keine bestimmte Taktzahl und an keinen gleichartigen Rhythmus, und trägt sie auch in einem viel geschwindern Zeitmaaße vor, als sie getanzt werden kann. Zu den mannigfaltigen Formen, in welchen die Menuet anjetzt in den Sinfonien und Sonatenarten erscheint, hat vorzüglich Haydn Gelegenheit gegeben und dazu die Muster geliefert.” Man kann sich ungefähr vorstellen, was Koch mit “viel geschwinder” meint, da er offensichtlich nur Haydns Menuette als stilbildend kannte. Platz nach oben für die Tempi von Beethovens Menuetten und Scherzi sollte da noch bleiben...


Arrey von Dommer meint in seinem Buch “Elemente der Musik” (Leipzig 1862):

“Ueberdies ist ein Künstler, der das richtige Tempo nicht aus dem Studium und dem Verständniss des Tonstückes selbst zu erkennen vermag, sondern vom Metronom herholt, einer objectiven Auffassung nicht fähig, seine Darstellung oder Direction wird mit oder ohne Metronom gleich unrichtig bleiben. Der Kunst wahrhaft genützt haben mechanische Hülfsmittel niemals, höchstens der blossen Technik.”

Dem ist auch im 21. Jahrhundert, das den Gebrauch “mechanischer Hülfsmittel” bis zur Verderbnis aller Kunst betreibt, nichts hinzuzufügen.

© 2003-2020 Wolfgang Weller