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FRÉDÉRIC CHOPIN

METRONOMZAHLEN


...sodann las er p r i m a  v i s t a die S c h u m a n n ' schen P h a n t a s i e s t ü c k e , aber in vollendeter Weise, und namentlich das Ende vom Lied so ergreifend, da ich es nie vergessen werde. Dann griff er hastig nach Kompositionen, die er in Italien noch nicht vorgefunden, als Me n d e l s s o h n ' s  P r ä l u d i e n    u n d  F u g e n  f ü  r  d i e  O r g e l , welche er sammt Pedal auf dem Klavier allein nebst Verstärkungen und Verdoppelungen ganz himmlisch spielte, sowie C h o p i n ' s neue    E t ü d e n , die ihm noch größtentheils unbekannt waren - ...

(Ramann, Lina/Franz Liszt/Erster Band/Zweites Buch/
25. Koncert-Episode in Wien)

Wie schnell hat Franz Liszt Chopins Etüden (hier vermutlich einige aus op. 25) und die anderen Sachen vom Blatt gespielt?


In seinem Buch “Chopin - Praktische Anweisungen für das Studium der Chopin-Werke” (Mitteldeutscher Verlag 1949) schreibt Bronislaw von Pozniak:
“Ich weiß positiv, daß Chopin seinen Schülern beim Studium der Polonaisen ausdrücklich das Zählen des Dreivierteltaktes in der Sechsteiligkeit empfahl. Damit bewies er, daß er das Tempo auf keinen Fall anders haben wollte, als man es beim Tanzen nahm.”

Von Frédéric Chopin sind nicht viele eigenschriftliche Metronomzahlen überliefert. Das heißt nicht, dass die Zahlen in den von ihm veranlassten Erstausgaben zu vernachlässigen seien - sie sind im Gegenteil aufschlussreich -  doch befinden wir uns bei den autographen Zahlen erst einmal auf der sicheren Seite. Ich beziehe mich auf die Angaben in den wissenschaftlichen Kommentaren der polnischen Gesamtausgabe und der Ausgabe des Henle-Verlages. Der empfohlene Gebrauch sämtlicher Tempi wurde in der Praxis (d. h. bei öffentlichen Aufführungen) erfolgreich erprobt.

Über das von Chopin verwendete Rubato schreibt Adolf Ruthardt (“Wegweiser durch die Klavierliteratur”, 10. Auflage 1925, Verlag Hug&Co.):
“Im Übrigen wurde mir noch von einigen Schülern Chopins mündlich versichert, daß ihnen bei Chopin das Rubato durchaus nicht in dem Grade aufgefallen sei, als wie bei späteren Konzertspielern bester Art, die, wenn sie Chopin vortragen, von dem Wahne geleitet sind, sie müßten unbedingt hin- und herschwanken, und die nicht bedenken, daß es eine große Anzahl Stücke desselben außer seinen Polonaisen gibt, die nicht minder rhythmisch und im Takt gespielt werden müssen, als irgendeins von den Vorromantikern.”

Über Chopins Art, den Triller auszuführen, wissen wir von seinem Schüler Carol Mikuli, daß er sie meist mit der oberen Nebennote anfing (Kommentar WW: vermutlich hat er diese Manier aus seiner Studienzeit mit seinem Klavierlehrer Adalbert Zywny beibehalten, der sein Geburtsjahr immerhin mit dem W.A. Mozarts teilte),sie weniger schnell als vielmehr mit großer Gleichmäßigkeit spielte, das Trillerende ruhig und ohne Überstürzung.


Der Liszt-Schüler William Mason schreibt über die zu wählenden Tempi bei Chopin folgendes:

William Mason (1829 – 1908)

Memories of a musical life (New York 1901)

RATES OF TEMPO — THE PRESENT TIME
COMPARED WITH FIFTY YEARS AGO

In recalling Liszt's playing I cannot help noticing the marked difference in modern rates of tempo as compared with those which were considered authentic fifty years ago. This is noticeable in many of Chopin's compositions, especially the larger ones, such as the sonatas, ballades, fantasies, etc., with all of which I am very familiar, having heard them played not only by Liszt in Weimar, but in other German cities, and by artists of the highest rank, many of whom were contemporaries and personal friends of Chopin. They all seemed to adopt a certain rate of speed, as if in conformity with the composer's intention, and it was in agreement with my own intuitions. Dreyschock and Liszt had often heard the composer play his own pieces and must certainly have been familiar at least with his rates of tempo. I was very close to the Chopin day, having been in Germany only a few months when he died. Two of my teachers and nearly all of the musicians I had met were his contemporaries and had heard him play his own compositions. I certainly ought to have the Chopin traditions.

ELECTROCUTING CHOPIN

The question is, should Chopin be played in accordance with the spirit of the time in which he lived, should his works be played in the tempo in which he played them, or, because electricity has brought about so many changes and has enabled us to do so many things much more rapidly than formerly, should Chopin's music be electrified, or, as it seems to me, electrocuted? I think there is a general tendency to play the rapid movements in Chopin, and, in fact, in all composers not of the extreme modern type, too fast. To play these movements rapidly and give the phrases with absolute clearness, one must have such breadth, command of rhythm, and repose in action that he can put the tones together like a string of pearls, so that each is rounded into shape, and the phrase is a complete and definite series of tones, and not like a lot of over-boiled peas, so soft that they all mash together. In too rapid playing the effect of speed is lost.
The Chopin "Waltz in D Flat Major" is often played much too fast. The theme is said to have been suggested to the composer by a lap-dog in his room suddenly beginning to chase his tail. Whether true or not, the story is suggestive. Destroy the contour of that waltz by playing it at too high a rate of speed, and the dog is no longer chasing his tail, but dashing aimlessly about the room.
Nor should the tempo be too slow. Slow movements are effective, but sufficient animation must prevail to impart life and fervency to the music. A stream may flow so sluggishly that the water loses its clearness. This is not repose, but stagnation. During the musical season of 1899-1900 in New York I heard modern pianists play some of Chopin's compositions so slowly that the effect produced upon me was like that of a music-box running down. One endures it for a while, but finally is wrought up to such a feeling of impatience as to induce the exclamation, "Either stop that thing altogether or wind it up."

Copyright, 1900, 1901, by The Century Co.
Published October, 1901. The Devine Press.


Variationen op. 2 (“Reich mir die Hand mein Leben” )

Vorbemerkung:
Friedrich Wieck hat in der Zeitschrift “Caecilia” aus dem Jahre 1832 eine bemerkenswert enthusiastische, verständnisvolle und, was den Detailreichtum und die Genauigkeit der Ausführungen angeht, eine der Schumann’schen vorzuziehende Schilderung des Werkes geliefert. Eine Fußnote vermerkt die Aufführung durch die vierzehnjährige (in Wirklichkeit erst dreizehnjährige) Clara Wieck.
 

Largo                    4tel = 63 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn mechanisch unspielbar, die musikalischen Parameter sind nicht zu vermitteln.
Im frühen 19. Jahrhundert sollte die übermäßige Länge einer langsamen Einleitung zu leichten ornamentalen Variationen das Publikum auf die Folter spannen in der Erwartung, endlich das bekannte, im Titel angekündigte Thema zu hören. (s. Jim Samson, Anm. S.297/18 zu Chopins op. 2)

Poco più mosso     4tel = 80 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn mechanisch unspielbar, die musikalischen Parameter sind nicht zu vermitteln.

Thema Allegretto   4tel = 58 (?)

Diskussion:
Tempobezeichung bei Mozart ist Andantino. Der Komponist Vaclav Jan Tomaschek hat aus der Erinnerung die Oper, wie er sie noch unter Mozart hörte, nachträglich metronomisiert. Er gibt die Zahl 88. In Liszt’s “Réminiscences de Don Juan” ist dieses Thema und zwei Variationen so strukturiert, daß man fast zwangsläufig auf diese Zahl kommt. Siegismund Thalberg gibt in seiner Fantasie mit Variationen über dieses Thema (op. 14) ebenfalls die Zahl 88 an. Die Ausgabe Klindworth/Scharwenka, die um 1880 erschien, notiert 4tel = 48.

Hypothese:
Chopin wollte 4tel = 88 schreiben und hat sich entweder verschrieben oder im Autograph könnte bei genauer Hinsicht auch eine 8 statt einer 5 stehen.

Folgerung:
metrische 4tel = 88 erscheinen musikalisch völlig befriedigend, metrische 4tel = 58 erscheinen zu langsam, mathematische 4tel = 88 wirken nur lächerlich, mathematische 4tel = 58 wirken immer noch deutlich zu schnell, 4tel = 48 mathematisch genommen sind zuträglich. (Der Autor WW nimmt beim Vortrag getickte 8tel ca. 88).


Var. I Brillante 4tel = 76 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn mechanisch noch spielbar, sind die musikalischen Parameter nicht zu vermitteln.

Var. II Veloce ma accuratamente 4tel = 92 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn mechanisch mit der geforderten Accuratesse weder spielbar noch wahrnehmbar, die musikalischen Parameter sind nicht zu vermitteln. Die Artikulationsart “legatissimo” reduziert das Tempo eines Stückes grundsätzlich. Wer sich mit dem Klavier auskennt, weiß, bei welchem Tempo das Legato notwendigerweise ins Leggiero  umspringt.

Var. III Sempre sostenuto 4tel = 69 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn mechanisch spielbar sind die musikalischen Parameter nicht zu vermitteln.

Var. IV Con Bravura 4tel = 92 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn ist die geforderte Artikulationsart: Keil-Staccato nicht darstellbar. Auch die Metrik und Dynamik will deutlich gespielt werden, dann klingt es auch bravourös. Ansonsten klingt es nur  komisch nach dem berüchtigten Mickey-Mouse-Effect.

Var. IV Urfassung 4tel = 60 metrisch zu nehmen.

Begründung: im mathematischen Sinn unspielbar (Sprünge, Vierergruppen beidhändig in 64teln) und musikalisch völlig sinnlos. Übrigens auch metrisch sehr anspruchsvoll in der mechanischen Ausführung.

Var. V Adagio 8tel = 69 (keine Empfehlung)

Begründung: der Anfang klingt mit mathematischen 8teln überzeugend, ebenso die Stellen mit den langen Pausen. Allerdings wird dann z. B. die 256tel-Vigintole in Takt 14 - sie hat in den Ausgaben 2 Balken zu wenig - unspielbar (23 Töne auf eine halbe Sekunde); freilich wäre sie das im halbierten Tempo immer noch. Auch die Quatuordezimole im 2. Takt ist im Tempo nicht anständig auszuführen. Hier muß jeder Pianist für sich das rechte Rubato erspüren. Ich selbst nehme für diese Variation mathematische 8tel ca. 54. Das Argument der mechanischen Ausführbarkeit ist für die Tempo-Giusto-Praxis in diesem und ähnlich gelagerten Einzelfällen also nicht anwendbar!

Var. VI Alla Polacca 4tel = 96 metrisch zu nehmen.

Begründung: siehe Tänze (Polonaise)

 

 

MAZURKEN

Zur richtigen Temponahme informiere man sich zuvor allgemein bei den Tänzen unter Kujawiak, Mazurek und Oberek.

Mazurka op. 7 Nr. 1

Vivace, punkt. 2tel = 50.

Diskussion:

  • Eine Halbierung ergibt ein zu langsames Tempo. Friedrich Kalkbrenner, Zeitgenosse Chopins, hat seine Variationen op. 120 (Paris: Maurice Schlesinger, n.d. Plate M. S. 1705) über diese Mazurka komponiert und gibt 4tel = 112 an. DieserWert ist wörtlich zu nehmen und ergibt ein sehr gutes Tempo, das auch ein Rubato überzeugend zuläßt. Bemerkenswert, daß nur die Mazurka, also das Thema, von Kalkbrenner mit der wörtlich zu nehmenden Metronomzahl bedacht worden ist, alle anderen Teile seiner Variationen (einschließlich der Introduktion) hingegen metrisch zu nehmen sind.
  • Nimmt man die Zahl, wie sie in den sogenannten Urtextausgaben wiedergegeben ist, wörtlich, so ergibt sich ein Einschlag-Takt, welcher der Subtilität des Notentextes (Akzent auf dem 16tel des punktierten Rhythmus!) kaum adäquat ist.

 

Mazurka op. 24 Nr. 1

Lento, 4tel = 108. Mathematisch zu nehmen.

Begründung: Unmittelbar einsichtig.

 

Mazurka op. 24 Nr. 2

Allegro ma non troppo, 4tel = 192. Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
An dieser Zahl ist viel herumgerätselt worden. Die hohe Zahl entspricht einem Prestissimo, nimmt man sie mathematisch. Das widerspricht sowohl Chopins Tempoangabe als auch dem musikalischen Inhalt. Andererseits steht in den von Chopin veranlaßten deutschen, französischen und englischen Erstausgaben 4tel = 108. Die Henle-Ausgabe gesteht ehrlich, daß der große Unterschied nicht erklärlich sei.

Hypothese:
Chopin hat zuerst metrisch notiert, in die Drucke dann jedoch die fast um die Hälfte niedrigere, mathematisch zu nehmende Zahl eingestellt. Das wäre ein schönes Beispiel für das Schwanken eines Komponisten zwischen metrischer und mathematischer Schreibweise. Vermutlich wollte er auch, um keine Verwirrung zu stiften, eine einheitliche Metronombezeichnung der vier Stücke beibehalten oder ist von den Verlegern darauf hingewiesen worden.

Folgerung:
Beide Zahlen sind richtig! 192 nehme man metrisch, 108 mathematisch, also geringfügig schneller.

 

 

Mazurka op. 24 Nr. 3

Moderato, 4tel = 126. Mathematisch zu nehmen.

Begründung: Unmittelbar einsichtig.

 

Mazurka op. 24 Nr. 4

Moderato, 4tel = 132. Mathematisch zu nehmen.

Begründung: Unmittelbar einsichtig.

Allgemeine Diskussion:
132 ist überhaupt ein schönes “Durchschnittstempo” für alles, was unter “Mazur” fällt. So nehme man auch das “Rondo à la Mazur” op. 5 in diesem Tempo und man wird überzeugend und virtuos darstellen können. 150 -180 ist passend für den Typus des schnelleren Oberek, z. B. op. 6 Nr. 4, wo ich mathematische 4tel = 152 empfehle. Die in den Quellen stehende Zahl punkt. 4tel = 76 ist zwar mechanisch spielbar, jedoch musikalisch nicht darstellbar. Ein weiterer Oberek-Typus ist op. 7 Nr. 1, den ich ebenfalls mit mathematischen 4tel = 152 empfehle.

 

ETÜDEN

Etüde op. 10 Nr. 1

siehe Diskussion auf der Unterseite “Godowsky”.

Interpretation im rechten, historisch informierten Tempo:

 

Etüde op. 10 Nr. 2, andere Fassung

(Erstveröffentlichung 1973 in der Wiener Urtext-Ausgabe von Schott/Universal)

Vivace, 2tel = 69. Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Von allen Pianisten versucht, doch von keinem je gleichmäßig und völlig sauber im mathematischen Tempo gespielt - auch wenn die Bewohner Velocistans dies vermutlich nicht wahrhaben wollen. Die vorgeschriebene Artikulation “legato” und die Viertelnoten in der Unterstimme der rechten Hand verbieten eine mathematische Temponahme. Zudem sind viele Akzente zu spielen, Metrik darzustellen und deutlich zu phrasieren. Zusätzlich benötigt die Agogik Raum nach der schnelleren Seite hin, z. B. für ein Accelerando ab Takt 32. Vom Klang und der Mystik des raunenden Flüsterns dieser avantgardistischen Komposition gar nicht zu reden. Es ist übrigens für einen technisch versierten Pianisten mechanisch möglich, mit mathematischen 4tel = 152-160 zu beginnen, freilich nur leggierissimo und bei Sechzehnteln in der Unterstimme der rechten Hand.. Man hält das aber nicht lange durch. Versuche man also die metrische Temponahme (“getickte” 8tel = 138 - 144) und höre auf die (wieder) neuen Dimensionen dieser Musik, die sich dem Ohr ganz entgegen dem oberflächlichen Gedudel herkömmlicher Spielweise erschließen!

 

 

Etüde op. 10 Nr. 4

Diskussion:
Das Autograph vermerkt keine Metronomzahl und schreibt Presto mit Alla breve vor. Es hat sich aufgrund der Erstausgaben die Zahl 88 für die Halbe (!) eingebürgert. Wollte man diese Zahl wörtlich nehmen, ergäben allein die fortlaufenden Sechzehntel 12 Töne je Sekunde. Spätestens bei T. 29, wo aufgrund des Aufbaues und der inneren Dramatik eine drängendere Agogik zu nehmen wäre, müssen der musikalischen Logik zum Trotz alle Schnellspieler langsamer werden! Vielfältige und detaillierte Bezeichnung durch Artikulations- und Dynamikzeichen, ein musikalischer Gehalt voller Dramatik sind darzustellen.
Für die metrische Temponahme sprechen auch Details wie die Schreibweise der beiden Schlusstakte. Hätten die Veloziferischen recht, würde Chopin Viertelnoten mit Viertelpausen geschrieben haben. Dies übrigens zuvor schon bei allen kurzen Vierteln, die Chopin als Achtel mit Achtelpause und Staccatopunkt notiert.

Folgerung:
Ohne Zweifel: das Tempo dieser Etüde ist metrisch zu nehmen.

Wie es klingt, wenn ein Klavierspieler die Metronomzahl wörtlich, also doppelt zu schnell nimmt, führt Simon Barere (1896 - 1951) vor. Neben immerhin noch erstaunlich wenig falschen und etwas mehr verschluckten Tönen bleibt von Chopins Notentext nicht mehr viel übrig; das Ganze klingt ungefähr so, als ob Micky Maus im Varieté klimperte.

 

 

Etüde op. 10 Nr. 7

Vivace, punkt. 4tel = 88. Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Wörtlich genommen bedeutet die Zahl für das 8tel 264, was zu einem unsäglich ratternden “Prestississimo” führt. Verfolgt man eine der gängigen oder gar “berühmten” rasenden Interpretationen mit den Noten, ist der Unterschied zwischen dem Gehörten und dem Notentext einfach umwerfend! Wo, fragt man sich, bleiben die Akzente, die An- und Abschwellgabeln innerhalb der Sechsergruppen, wo die Bogenenden? Hat je ein Pianist versucht, die Oberstimme der rechten Hand beim öffentlichen Vortrag legato zu spielen? Aber nein, das seien doch “nur” Phrasierungsbögen! - heißt es beschwichtigend. Nur zu dumm, daß man bei dem Schnell-Gerattere Phrasenbeginn und -ende nicht hört. Zudem kannte Chopin peinlicherweise Phrasierungsbögen nicht, auch wenn uns dies Vertreter der akademischen Zitadelle immer wieder weis zu machen versuchen. Übrigens hören in der deutschen Erstausgabe ab Takt 10 die Bögen auf, dafür steht dort groß und deutlich: SEMPRE LEGATO.

Historisches Beispiel:
Francis Planté (1839 - 1934) spielte die Étude op. 10 Nr. 7 von Frédéric Chopin auf einer Grundbewegung von raschen, lebhaften Achteln in der Grundbewegung und mit deutlicherer Artikulation als die Schnellspieler - selbst auf dieser 80 Jahre alten Aufnahme. Planté nimmt die Achtel auf ca. 180. Für das von Chopin geforderte Legato der Doppelgriffe ist aber auch Planté noch zu schnell. Zudem spielt er bewußt non legato, quasi martellato, wie an seinen schüttelnden Handbewegungen zu erkennen ist. Beim Legato wäre “krabbelndes” Fingerspiel nötig gewesen.

 

 

Etüde op. 10 Nr. 8

Allegro, 2tel = 96. Metrisch zu nehmen.

Begründung:
Mathematisch verstanden unspielbar und dem Charakter der Musik völlig unangemessen.

Diskussion:
Man versuche z. B. die musikalisch ebenso dichte wie klanglich betörende Coda einmal nacheinander mit mathematischer und metrischer Temponahme!

 

Etüde op. 10 Nr. 9

Allegro molto agitato, punkt. 4tel = 92. Metrisch zu nehmen

Diskussion:
“Molto agitato” heißt “sehr aufgeregt”. Das drückt sich hier vielfach in der Artikulation, den Quintolen, extremer dynamischer Unterschiede und einer ausgeprägten Agogik aus.  Mathematisch müßte man 8tel = 276 spielen, was ein mechanisch zwar machbares (sofern man nicht den Originalfingersatz verwendet!), aber musikalisch unsägliches Prestissimo bedeutet. Dies würde z. B. ein deutliches Accelerando unmöglich und sinnlos machen. Metrisch befinden wir uns dagegen mit 8tel = 138 im Allegro-Bereich und können die Vortragsbezeichnungen darstellen: z.B. stretto, accel., appassionato, legatissimo.
Übrigens heißt “legatissimo” die Töne einer zerlegten Akkord-Gruppe mit den Fingern liegen zu lassen (“Fingerpedal”), später wurde “harmonioso” daraus. Liszt meinte damit dann aber reichlichen Pedalgebrauch. Chopin wünscht selbstverständlich Pedal zu den einzelne Gruppen, die ja zugleich jeweils einen halben Takt markieren. Die genaue Beachtung der Stellung der Pedalzeichen und der Pedal a u f h e b u n g s zeichen (auf das sechste 16tel) belehrt spätestens hier jeden intelligenten Pianisten der Richtigkeit metrischer Temponahme.

 

 

Etüde op. 10 Nr. 10

Vivace assai, punkt. 2tel = 80. Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Legatissimo der linken Hand, Haltung des 4. Fingers (macht kein Pianist im Konzert!), metrische und artikulatorische Vielfalt der rechten Hand, exquisite klangliche Feinabstufungen, Noblesse.
Im mathematischen Tempo zwar mechanisch machbar (sofern man nicht den Originalfingersatz verwendet!), aber im musikalischen Ergebnis von einer Dürre, die gegenüber dem Komponisten schlicht verachtend ist.

 

 

Etüde op. 10 Nr. 12

Allegro con fuoco, 2tel = 76. Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Mechanisch im mathematischen Tempo leider gut abspielbar. Die Klavierspieler denken, je schneller, desto “revolutionärer”. Es klingt aber immer wie Mickey Mouse auf der Flucht vor Kater Karlo. Zu verweisen ist jedoch auf die dynamischen Zeichen auf engem Raum, Vortragsbezeichnungen wie “appassionato” , starke dynamische Gegensätze. Metrisch gespielt wird die ungeheure Dramatik dieses Musikstückes überhaupt erst wahrnehmbar.
Einen Hinweis auf das Tempo mag die Geschichte von Chopins Zeitgenossen Alexander Dreyschock hergeben, der nach einigen Wochen Übung die ganze Etüde links in Oktaven “im richtigen Tempo” herunterdonnern konnte.

 

 

Etüde op. 25 Nr. 1

Allegro sostenuto, 4tel = 104. Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Ebenfalls mechanisch im mathematischen Tempo verhältnismäßig einfach abspielbar, die Poesie und das “sostenuto” sind allerdings nur metrisch zufriedenstellend darzustellen.

 

 

Etüde op. 25 Nr. 4

Agitato, 4tel = 160 (autograph?). Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Ein bezauberndes spanisches Ständchen, keine artistische Luftnummer! Die musikalischen Parameter (Artikulation!) überhaupt nur metrisch darstellbar und für den Hörer erfaßbar.

 

 

Etüde op. 25 Nr. 6

Allegro, 2tel = 69 (autograph?). Metrisch zu nehmen.

 

 

Etüde op. 25 Nr. 7

Lento, 4tel = 66 (autograph?). Metrisch zu nehmen.

Begründung:
Mathematische 4tel (8tel=132!) spielt auch in Velocistan niemand, weil dieses Tempo schon rein mechanisch nicht spielbar ist. Überdies ginge es auch völlig an der Musik vorbei. Metrisch hingegen ein ideales Tempo für dieses abgründige Seelengemälde.

 

 

Etüde op. 25 Nr. 8

Vivace, 2tel = 69 (autograph?). Metrisch zu nehmen.

Begründung:
Mechanisch im geforderten molto legato unspielbar.

Diskussion:

  • Bei vielen gängigen “Interpretationen” kommt ein unverständliches Konglomerat von Klängen zustande, die mehr an Luftblasen aus der Sauerstoffflasche eines Tauchgerätes als an Musik erinnern. Metrisch genommen eine wundervoll poetische Sextenstudie voll harmonischer Kühnheiten, die sauber gespielt sein wollen und gehört zu werden verdienen.
  • Chopins eigenhändiger Fingersatz im Handexemplar seiner Schülerin O’Meara im ersten Takt (Quelle: Wiener Urtext-Ausgabe) legt hier eine ganz andere Art der Musikausübung nahe, als bloße Rasanz.

 

 

Etüde op. 25 Nr. 9

Allegro assai, 4tel = 112 (autograph?). Metrisch zu nehmen.

Diskussion:
Metrische Mikrostruktur, feine Artikulation, im Ausdruck leuchtende Heiterkeit sind nur im Tempo Giusto darstellbar. Einst hieß das Stück populär “Schmetterlings -Etüde”, und es waren wohl heiter flatternde Schmetterlinge im Sonnenschein gemeint - kennt die noch ein Pianist?

 

© 2003 - 2011 Wolfgang Weller.