“Die Notwendigkeit, alles auswendig zu lernen, was vor dem Publikum zu spielen ist, beschränkt das Repertoire eines Künstlers. Es ist möglich, dass wieder
einmal eine Zeit kommen wird, wo ein Pianist wieder vor dem Publikum mit Noten spielen kann.”
(Alberto Jonás, Master School of Modern Piano Playing & Virtuosity 1929, Vol. VI, Seite 247f.)
WARUM MIT NOTEN KONZERTIEREN?
1. Die schriftliche Überlieferung ist ein wesentliches Element der abendländischen Kunstmusik. Das Auswendiglernen von vielen hundert Musikstücken, die jeweils
Minuten bis Stunden dauern können, ist nicht nur zeitraubend, sondern auch, außer zu pädagogischen Zielen, als bloße circensische Leistung weder Mittel zum Zweck noch von irgendeinem künstlerischen
Wert.
2. Die aktive Gedächtnisleistung beim Reproduzieren kann die Konzentration auf die Gestaltung behindern. Die passive Gedächtnisleistung als bloßes Wieder-Erkennen
des früher studierten Notentextes beim Nachlesen läßt hingegen für die Gestaltung genügend Energien frei. Der Künstler kann qualitativ mehr vermitteln.
3. In den letzten 400 Jahren sind mindestens 300.000 Klavierwerke von einigem Anspruch entstanden; mindestens 10% sind von so hohem künstlerischem Wert, daß sie
vorgetragen zu werden verdienen. Die Lebensleistung eines auswendig konzertierenden Pianisten übersteigt auch in herausragenden Fällen selten 500 sofort aus dem Gedächtnis abrufbare Einzelstücke. Wer
auswendig konzertiert, verzichtet also auf vieles Schöne. Solche Askese ist gerade in dürftiger Zeit fehl am Platze.
4. Auswendigspiel wird aus Gründen der Konvention bzw. einer etwa 150jährigen dubiosen Tradition erwartet - wird es das wirklich? Eine gewisse Sensationslust des
(inzwischen übrigens ausgestorbenen) Bildungsbürgertums mag dazukommen. Aber wird die Musik dadurch besser? Verfolgt man bei auswendig konzertierenden Pianisten den Notentext, ist die Diskrepanz
zwischen dem Notierten und dem Gehörten oft ziemlich verblüffend. Ein freier Geist läßt sich von keiner Konvention vorschreiben, auf welche Weise er seine Arbeit auszuführen hat, denn entscheidend
ist die Qualität seiner Arbeit.
5. Die Künstlerschaft ist demnach durch Auswendigspiel gefährdet, der Interpret zu einem beschränkten Repertoire gezwungen. Spiel von den Noten hingegen bringt
Leistungssteigerung in jeder Hinsicht und vergrößert sowohl Freiheit als auch Sicherheit und Perfektion der Künstler und damit auch den Kunsteindruck beim Zuhörer.
6. Auswendig konzertieren Interpreten, vor allem Pianisten, besonders gern, wenn sie in einer Saison das gleiche Konzertprogramm viele Male wiederholen. Aber im
Ernst: welcher ernsthafte Künstler, ernst genommen werden wollende Künstler, will das schon? Wer zwanzig Mal in einer Saison die Mondscheinsonate gespielt hat, wird sie wohl auswendig können. Aber
sollte man sie wirklich zwanzig Mal spielen, interpretieren - und sich dabei zu Tode langweilen?
7. “Vielleicht, weil sie die moderne Manier des Auswendigspielens gewagt findet, wiederholt sie dieselben Sachen so oft. Man erzählt, sie habe über die
Notwendigkeit, es thun zu müssen, geweint, und es ist sicher lächerlich, bei einer so großen Künstlerin wie Clara Schumann d a r a u f zu achten. Wenn die Menschen nur jedem gestatteten,
seine eigene Individualität zu haben!” (Die Liszt-Schülerin Amy Fay in einem Brief an ihre Familie 1882)
8. Das Spiel ohne Noten hat dort seinen Platz, wo es keine Noten gibt: bei der freien Phantasie oder Improvisation. Außerdem kann aus pädagogischen Gründen
Auswendiglernen nötig werden. Und es spricht keineswegs etwas dagegen, die eine oder andere Beethoven-Sonate, einige Chopin-Etüden oder etwas aus dem Wohltemperierten Klavier im Gedächtnis zu haben.
9. Franz Liszt hat das Auswendig-Spiel und Auswendig-Dirigieren (Zitat: “dieses geschieht immer auf Kosten des Werkes!”
) noch im Alter verurteilt, wenn es als Selbstzweck oder Sport betrieben wurde. Er forderte es aber dort, wo es seiner Ansicht nach die Komposition erheischte oder der besonderen Begabung des
Interpreten entsprach. Sein zweites Klavierkonzert wurde am 13. Juni 1884 im Unterricht vorgetragen. Liszt echauffierte sich (vermutlich mit ironischem Unterton): “Trotz allem und allem
ist die heutige Jugend schon so korrumpiert, daß sie solche Sachen auswendig spielt!”
10. “Das Programm ist auswendig vorzutragen (ausgenommen das zeitgenössische Repertoire und die Kammermusikwerke)”.
Zitat aus den Regularien des Busoni-Wettbewerbes 2018/19. Die Frage nach dem WARUM? dieses abderitischen Reglements sollte doch nachdenklich machen.
11. Die Dichterin Bettina von Arnim tadelte das zu ihrer Zeit (ca. 1840-50)bereits in Mode kommende öffentliche Auswendigspiel einiger Pianisten als Selbstüberheblichkeit. Nach
langer Zeit musikalischer Untugend sollten wir wieder den Respekt vor der Musik unserer großen Meister und ihrer Niederschriften neu lernen. Lernen wir - Notenlesen!
Persönlicher Nachtrag: Wolfgang Weller trägt nicht einmal seine eigenen Klavierwerke auswendig vor. Denn wollte er sie beständig mit sich im Gedächtnis
herumtragen, hätte er sich deren Notierung ersparen können. Er verbittet sich überdies sämtliche Vorschriften über die Art und Weise, w i e er seine künstlerische Arbeit ausübt.
© Wolfgang Weller 1990 aktualisiert 2025
|